Interview von Hans-Jürgen Schaal
(erschienen in CLARINO)
Um 1980 gehörte der Saxofonist zu den „Jungen Wilden“ der Kölner Jazzszene. Auf seinem Label Pata Music dokumentiert er seit über 30 Jahren mit diversen Ensembles seine spannende Musik.
Den ersten Saxofonunterricht erhielt er von seinem Vater. Mit 13 Jahren trat er in den örtlichen Musikverein ein, spielte dort im Blasorchester. Dass es noch ganz andere Klänge gab – etwa Jazz und Neue Musik-, erfuhr er vor allem durchs Radio. Sechs Jahre lang studierte Norbert Stein an der Musikhochschule Köln, wo in den 1970er Jahren Komponisten wie Karlheinz Stockhausen und Mauricio Kagel unterrichteten.
„Köln war ein bedeutender Ort für innovative Musik“, sagt Stein heute. „Es herrschte ein mutiger, kreativer Geist des Aufbruchs in neue – auch neue musikalische – Welten.“ 1980 taten er und andere junge Kölner Musiker sich zusammen und gründeten die Jazz Haus Initiative, zu der die Offene Jazz Haus Schule und das MusIkerlabel JazzHausMusik gehören. Inspiriert war der Schritt von ähnlichen Musikerinitiativen in den USA (Jazz Composers Guild, AACM) oder Frankreich (ARFI).
Die Erfahrungen mit dem Label JazzHausMusik im Gepäck, gründete der Saxofonist 1986 sein Label Pata Music, um noch unabhängiger die eigene Musik produzieren zu können. Der Begriff „Pata“ bezieht sich dabei auf die imaginäre „Wissenschaft“ der Pataphysik, eine Erfindung des Literaten Alfred Jarry. Wie die Pataphysik, so soll auch Steins „Patamusik“ über der Konvention stehen. Alles ist verwandelbar, aber nichts ist beliebig. 24 Produktionen hat Norbert Stein auf seinem Label bislang veröffentlicht – mit großen Besetzungen (zum Beispiel Pata Orchester), mit kleinen Besetzungen (zum Beispiel Pata Trio), mit Weltmusik-Projekten (zum Beispiel Pata Bahia, Pata Java, Pata Maroc) oder mit reiner Bläsergruppe (Pata Horns). Die aktuelle Pata-Band heißt Pata Messengers und ist ein Jazzquartett in der Besetzung Tenorsaxofon, Piano, Bass, Schlagzeug.
CLARINO: Wie prägend war für Sie der Aufbruch der Kölner Szene um 198o? Wie haben Sie das damals erlebt?
Norbert Stein: Die jungen Jahre der Initiative habe ich als sehr kommunikativ, schwungvoll und Idealistisch erlebt. Es entstanden viele eigenständige Ensembles und spannende Produktionen. Ich konnte erfahren, was damals, getragen von dem Geist der Bürgerinitiativen, politisch zu bewirken war. Über die Jahre erkannte ich aber auch, wie sich das Kollektiv durch sich entwickelnde Hierarchien und Machtbestrebungen veränderte. Mein Schritt hinaus in die Selbstständigkeit war dann konsequent und notwendig.
Sie waren Mitte der 1980er Jahre auch Teil der damals gefeierten Kölner Saxophon Mafia, eines reinen Saxofon-Ensembles. Waren Ihre Pata Horns später davon inspiriert?
Die Kölner Saxophon Mafia existierte in der öffentlichen Wahrnehmung zeitgleich mit dem World Saxophone Ouartet und dem kalifornischen Rova Saxophone Quartet. Für uns war das eine gute Herausforderung, eigene Ideen und eigenes Können zu entwickeln. Ein Albumtitel der Kölner Saxophon Mafia war geradezu künstlerisches Programm: “ Die saxuelle Befreiung“. Nach meinem Ausscheiden war ich dann Mitbegründer der Pata Horns, eines Bläserquartetts aus zwei Holz· und zwei Blechbläsern. Die Musik der Pata Horns war liedhafter als die der Saxophon Mafia, auch romantisch und witzig. Sie schlug einen warmen, stimmigen Bogen von der Tradition hin zu Neuem -„New Archaic Music“.
Wie wurden Sie Ihre musikalische Entwicklung als Saxofonist beschreiben? Was hat Sie über die Jahre besonders inspiriert?
„Mikrokosmos“ von Béla Bartók hat mich zum ersten Mal mit Bitonalität konfrontiert – etwas, das ich in gewaltigerem Maße später in der 4. Sinfonie von Charles Ives wiedergefunden habe. Auch die grenzgängerische Atonalität Schönbergs war mir ein beglückendes Hörerlebnis Diese sogenannte „A-tonalität“ entsprach durchaus der Tonalität meines Weltempfindens. Mich begeisterten die kunstvolle Entfesselung von Urgewalten In der Musik von Xenakis, die saxofonistische Kraft von Pharoah Sanders, die Expression von Archie Shepp, die Kunst von Sonny Rollins und die sich über einen rhythmischen Strom erhebenden melodischen, brennenden Flüge von Gato Barbieri. In den 1970er Jahren habe ich als Klarinettist auch die Darmstädter Tage für Neue Musik besucht. Ich nahm dort an einem Kurs für Multiphonics auf der Oboe teil. „Top-Tones for (the) Saxophone“ von Ted Nash und das gleichnamige Übungsheft von Sigurd Rascher haben für mich den engen Rahmen der bisherigen Grifftabelle gesprengt. Sie eröffneten mir das weite Feld der Kunst des Saxofonspiels – zusammen mit Exkursen ins „False Fingering“ und Studien zum Erzeugen differenzierter Mehrklänge und Multiphonics auf dem Saxofon.
Sie sind als Komponist mindestens so stark profiliert wie als Saxofonspieler. Wenn man für improvisierende Musiker komponiert, ist man da auch immer ein Stück weit ein Stichwortgeber, ein Ermöglicher?
Mein Komponieren hat sich entwickelt aus dem Bedürfnis, etwas zu initiieren und in die Welt zu bringen, das ich gerne hören möchte. Ich komponiere für Improvisatoren. Mein Hauptansatz ist dabei die Melodie. Durch sie inszeniere ich Räume, in denen Musiker über die Interpretation des Geschriebenen hinaus sich und Ihre Kunst zum Ausdruck bringen können. Der komponierte Tell eines Stücks präsentiert, was
ich als Komponist fassen und kommunizieren will. Die offenen Räume dagegen lassen das entstehen, was ich sehr schätze und was mich erfüllt: die musikalische Interaktion und das gemeinsame Schaffen eines starken Augenblicks von intensiver Gegenwart.
Sie sind als Komponist von sehr verschiedenen Welten inspiriert. Wie wurden Sie Ihr Verhältnis zur E-Musik oder zum Jazz beschreiben?
Beide Genres – und auch die Musik aus für mich exotischen Kulturen – haben mir Türen aus dem Bekannten heraus geöffnet. Aber nicht zu verschiedenen Welten hin, sondern zum Erleben einer Welt, die Gegenwart als Ausdruck des Möglichen begreift. Eine Welt im Fluss, voller kreativem Potenzial, in der ich an Neuem teilhaben kann.
Wie wichtig ist Ihnen die Auseinandersetzung mit diesen „exotischen“ oder Weltmusik-Konzepten?
Die Kenntnis außereuropäischer Musikkonzepte öffnet Musikern die Augen und Ohren dafür, dass es viele unterschiedliche Möglichkeiten und Regelwerke gibt, um wundervolle und berührende Musik zu schaffen. Jedes Regelwerk schafft eine ästhetische Eigenheit, die nur dadurch entsteht, dass es manches verlangt und manches ausschließt. Solche spezifischen Regelwerke sind als unterschiedliche Musikkulturen nicht nur über Länder verteilt, sondern auch über die Zelt. Die Schönheit der Gregorianik zum Beispiel beruhte auf ihren spezifischen Gesetzen. Solche Gesetze verlangen von den Ausübenden auch spezifische instrumentale oder kompositorische Fähigkeiten und Künste. Über allen kulturellen Unterschieden steht jedoch meines Erachtens ein universelles Verständnis für Rhythmus, Harmonie, Melodie, Energie und Fluss in der Musik. Damit können wir als Musiker über lokale Dialekte hinweg global arbeiten. Darauf basierten zahlreiche Projekte interkultureller Begegnungen, die ich mit meinen Kollegen weltweit realisieren konnte.
Manche Ihrer Pata-Ensembles waren einmalige Projekte, andere von längerer Dauer. War das immer so geplant?
Ich bin grundsätzlich daran interessiert, mit anderen Musikern und Künstlern möglichst intensiv und langfristig zusammenzuarbeiten. Solche langfristigen Kooperationen sind nicht selbstverständlich – und auch sie finden irgendwann ihr Ende. Wann das sein wird, ist immer ungewiss, und der Verlauf spannend. Entscheidend ist, die Zusammenarbeit möglichst produktiv zu nutzen, um gemeinsam in Tiefen, Höhen oder Wahrhaftiges vorzudringen. Der Verlauf ist ein zu nutzender, und das Ende ist oft Anfang des Neuen und des Weiter.
Sind die aktuellen Pata Messengers ein kontinuierlich arbeitendes Ensemble?
Die Pata Messengers sind zurzeit mein Hauptprojekt. Und immerhin arbeiten wir nun als Ensemble schon über drei CD-Produktionen hinweg zusammen. Es ist ein musikalischer Zusammenhalt vorwärts drängender Musiker. Wir haben gleichzeitig eine konzentrierte Nähe in der Arbeit und eine große Distanz in der Verfolgung eigener Wege. Das Ensemble ist ein Fokus innovativer Kräfte – und das ist die Qualität, die ich schätze.
Sie haben mehrfach betont, dass Sie als junger Mensch in Jarrys „Pataphysik“ einen Begriff gefunden haben, mit dem Sie sich identifizieren konnten. Würden Sie Ihr Label Pata Music heute wieder so nennen?
Roger Shattuck schreibt: „Die Pataphysik ist die Wissenschaft von jenem Bereich, der sich jenseits der Metaphysik erstreckt; oder auch: die Pataphysik übersteigt die Metaphysik in dem Maße, wie diese die Physik übersteigt [ … ]. Die Pataphysik ist die Wissenschaft des Besonderen, der Gesetze, die die Ausnahmen bestimmen.“ Also: Kein schlechter Grund, mein Label wieder Pata Music zu nennen!