Stufen der Polyphonie

Aspekte zur Entwicklung von Vielstimmigkeit
 

Jede der unten aufgezeigten Stufen der Polyphonie entfaltet mit ihrem Regelwerk eine eigene ästhetische Klangwelt, die durch den Grad der Entfernung der Tonwelten der einzelnen Stimmen zueinander geprägt wird.

Es zeigt sich, dass sowohl in harmonischer wie auch in rhythmischer Hinsicht ein immer größer werdender Abstand der einzelnen Stimmen zueinander als musikalisch „ganze“ Situation wahrgenommen werden kann.

Der Abstand der Stimmen zueinander kann in sich unterscheidenden harmonischen Räumen oder in verschiedenen rhythmischen Ebenen bestehen … oder beidem zusammen.

Die geistige Polyphonie existiert dort, wo das hörende oder spielende Bewußtsein musikalische Ereignisse, die sich in von einander distanzierten Tonwelten abspielen, noch als sich in der gleichen musikalischen Situation befindlich begreifen kann.

Das Wissen um die Vielfalt der möglichen Tonsprachen/Tonwelten und die zunehmende Fähigkeit, diese zu verstehen und sie künstlerisch einzusetzen, bereichern die Palette der musikalischen Möglichkeiten für Spielräume für Komposition und Inszenierung zeitgenössischen musikalischen Geschehens.

Von harmonischer Polyphonie

Im Folgenden sind Stufen der harmonischen Entwicklung von Polyphonie mit zunehmendem Grad an Verschiedenheit der Tonwelten in denen sich die Spieler bewegen aufgezeigt:

  • modale Improvisation
    Gleichzeitiges Spielen in einem bestimmten bestimmten diatonischer Tonraum
  • Akkordprogression
    Gleichzeitiges Spielen in einer sich wiederholenden Abfolge von meist funktional aufeinander bezogenen Akkorden
    Beispiel: Changesspiel im Jazz
  • Bitonalität
    Gleichzeitiges Spielen in zwei verschiedenen Tonarten
    Beispiel: Bartok „Mikrokosmos“
  • Multitonalität
    Gleichzeitiges Spielen in mehreren verschiedenen Tonarten: (z.B.
    Beispiel: Ornette Coleman „Harmolodik“
  • Atonalität
    Gleichzeitiges Spielen im potentiell zwölftönigen Raum ohne mehr als temporären Bezug zu einem Grundton
    Beispiel: Schönberg
  • Freitonalität
    Gleichzeitiges Spielen mit allen genannten Möglichkeiten innerhalb des westlichen Tonsystems und mit der Offenheit gegenüber der Einbeziehung der Welt der Geräusche und innovativer Spieltechniken
    Beispiele: Karlheinz Stockhausen, Avantgardejazz
 

Von rhythmischer Polyphonie

Im Folgenden sind Stufen der rhythmischen Entwicklung von Polyphonie mit zunehmendem Grad an Verschiedenheit der Zeitwelten in denen sich die Spieler bewegen aufgezeigt :

  • gleicher Rhythmus / Groove
    Gleichzeitiges Spielen mit gleichem Empfinden von Metrum und Taktschwerpunkt,
    Spielen im gleichen Fluss
  • Polyrhythmen
    Gleichzeitiges Spielen auf einheitlicher Zeitebene mit aufeinanderbezogener unterschiedlicher Gestaltung von Metrum und Taktschwerpunkten; Spielen im gleichen Fluss mit unterschiedlicher Interpretation und Gestaltung
  • Verschiedene Zeitebenen
    Gleichzeitiges Spielen auf unterschiedlichen Zeitebenen
 

Von geistiger Polyphonie

Geistige Polyphonie bezeichnet den Grad von Stimmenunabhängigkeit, bei dem die Gleichzeitigkeit künstlerischen Ausdrucks, die Koexistenz und Parallelität unterschiedlicher Tonwelten das prägende Merkmal ist:

  • Verschiedene Referenzsysteme
    Gleichzeitiges Spielen in verschiedenen geistigen Welten, Stimmungen, Zeitzonen, Tonsprachen, Musikkulturen …
    Szenische Auffassung der Ereignisse

Theorie & Praxis / Stufen der Polyphonie © Norbert Stein Pata Music