Eine Reise durch Zeiten und Räume

Bei Norbert Stein ist alles „Pata“ – Musik, Partituren, Label, Formationen

Hoehlenzeichnung von menschlicher Gesellschaft

„Es muß“, sagt Norbert Stein „einen Fluß geben.“ Das ist ein Grundsatz gleichermaßen fürs Leben wie für die Musik, die er schreibt; daß beides eng zusammenhängt, ist ohnehin eher ein Gemeinplatz als eine Weisheit. Auf die Musik bezogen, bedeutet die Fluß-Metapher: Sie soll in Bewegung sein, aber nicht in Hektik, sondern mit Stetigkeit, auch bei wechselnden Tempi; sie muß sich nicht in idyllischen Landschaften aufhalten, soll aber beim Hörer die emotionale Bereitschaft erzeugen, sich mitnehmen zu lassen; sie soll eine Ruhe ausstrahlen, die nicht einlullend wirkt, und sie soll schon garnicht beim Hörer die Selbstwahrnehmung suspendieren. Sie soll stilistische Grenzen haben, die nicht ein für allemal feststehen, sondern offen und diffus genug für Veränderungen und neue Einflüsse sind.

Norbert Steins Musik soll eine bestimmte Art, die Zeit vergehen zu lassen, nahelegen. Die Fluß-Metapher bezieht sich dabei vor allem auf zwei Parameter, und man muß genauer hinhören, um nicht in die Falle zu tappen und einen vordergründigen anti- akademischen, anti-modernen New Age- „zurück-zu- C-Dur-und-4/4-Takt“-Affekt zu vermuten: auf Melodie und Rhythmus. Beides ist für Norbert Steins Musik essentiell: Melodie und Rhythmus sieht er als universelle humane Grundlage von Musik an: etwas zum Mitsingen, Mitsummen, zum Wiedererkennen und Anlehnen soll Musik haben, und sie soll für die, die sie hören, und die, die sie spielen, eine gemeinsame Situation definieren. Selbst unerschrockene Hörer zeitgenössischer Avantgarde (zu denen er gehört) haben, da ist Norbert Stein sicher, dies Bedürfnis. Das ist oft in Zugaben demonstriert. Es kommt nur darauf an, wie man damit umgeht: Wehrt man es ab oder akzeptiert man es? Mit Abwehr, meint Norbert Stein, und das geht es schon wieder um ein musikalisches und lebenspraktisches Prinzip, kommt man irgendwann nicht weiter und tritt mehr oder weniger brillant auf der Stelle. Auch der Rhythmus soll fliessen. Nicht unbedingt pulsen, treiben oder hämmern, auch nicht ständig wechseln. Er soll eine Mitte der Musik bilden, zu der man gern zurückkehrt; keine bizarre Komponente, die den Schnittrhythmus der Medienwelt nachbildet.

Hoehlenzeichnung von JagdszeneNorbert Stein war, nach frühen, väterlich geförderten Anfängen am Altsaxophon, einer der ersten Absolventen des Jazz-Studienganges der Kölner Musikhochschule. In den aktiven siebziger Jahren gehörte er zu der Musiker-Bürgerinitiative für das Kölner Jazzhaus, einer der erfolg- und folgenreichsten Musiker-Kooperativen unserer Zeit, und war Mitglied der zentralen Bands dieser Initiative . … Seine Kompositionen lagen oft ein wenig neben dem (unformulierten) Gruppenkonsens. Ein auf Ironie zugespitzter Humor behagte ihm schon damals nicht: distanzierend-destruktive Arbeit mit dem musikalischen Material, kompositionshandwerklich beredtes Verstreuen humorig-sarkastischer Gesten war ihm zu oberflächlich. Humor, sagt Norbert Stein, sollte nicht das Medium von Abgrenzungsbedürfnissen sein. Humor sollte nicht den Horizont kleinlich verengen, sondern großzügig erweitern, Widersprüche und Gegensätze ertragbarer machen.

Als er … seine eigenen Wege zu gehen begann, begründete er seine Pata-Musik. „Pata“ ist eine bei Alfred Jarry („Taten und Meinungen des Pataphysikers Faustroll“) gefundene Doppelsilbe, lautlich ähnlich grundlegend und weitreichend wie „Dada“. Pataphysik ist die Wissenschaft von den imaginären Lösungen und meint einen Weg des Erkenntnisgewinns, der ohne die strengen Regeln der Vernunft und der Tradition auskommt (ohne sie gleichwohl zu verachten). „Pata“ heißt die Musik, heißt das Label, heißen die Formationen, mit denen Norbert Stein arbeitet („Pata Horns“, „Pata Orchester“, „Pata Trio“, „Pata Masters“). Einige Kompositionsaufträge – Moers, Kölner Philharmonie – unterstützten ihn bei der Ausformulierung seiner musikalischer Sprache, die nicht in ein abgeschlossenes Vokabular einmündet, und festigten seine Bindungen innerhalb eines Zirkels von Musikern, die bei der Aufführung seiner Musik in wechselnden Konstellationen beteiligt sind.

Hoehlenzeichnung von Menschen und TierherdeEin Pataphysiker ist kein Neoromantiker. Norbert Steins Musik ist oft geräuschhaft, manchmal eruptiv; Musikelektronik verwendet er neugierig, aber ohne Besessenheit als zeitgenössisches Instrument. Er liebt die kleinen, liedhaften Formen, spannt aber zwischen ihnen die Bögen größerer Zusammenhänge und kommt gern zurück auf bereits Gespieltes, um es neu zu sichten. Seine Bläsersätze lassen große Improvisationsräume und bilden oft den Hintergrund für freigeistige Solisten; vom Jazz hat er gelernt, ohne sich dessen Idiomatik verpflichtet zu fühlen; von anderen Idiomen und Vorbildern hat er genausoviel gelernt.

Es kommt durchaus vor, daß eine anheimelnde Melodie sich bei genauerem Hinsehen als Zwölftonreihe entpuppt. Ein zentrales Merkmal seiner partituren ist, daß er nicht Note für Note jeden klingenden Augenblick festschreibt. Beim Komponieren hat er stets bestimmte Musiker mit ihren Tugenden und Fähigkeiten im inneren Ohr. Was er schreibt, soll so präzise und verantwortungsvoll wie möglich ausgeführt werden, darauf besteht er wie jeder Komponist. Aber dazu gehört auch beispielsweise, daß bei Rubato-Passagen kleine Reibungen aufgrund von nicht völlig kongruenten metrischen Auffasungen entstehen. Solche kleinen Schwankungen sind absichtsvolle Verbeugungen vor der Aufführungssituation, die genau wie Soli den Musikern ihren Platz in der Musik einräumen. So sind seine Partituren nicht diktatorische Werke, denen sich Musiker zu fügen haben, sondern Ablaufpläne für Spielsituationen, bevölkert mit kreativen Musikern, die selbst ihre überraschenden Ideen und ihre Individualität der Situation und damit der Musik hinzufügen: Patapartituren.

Die Patamusik ist wie ein lebendiger Organismus in Bewegung und Veränderung. Vor einigen Jahren klang sie noch ganz anders als heute. Die LP „Lucy und der Ball“ (1988) ist von ungewöhnlich besetzten Pata Trio eingespielt: Zwei Saxophonisten (Stein und Hennes Hehn) und ein Schlagzeuger (Reinhard Kobialka), und die Musik ist heftig und kompromißlos, dabei luftig, schnörkellos laut. Das ist sagt Norbert Stein, die Kehrseite der Welt zugewandten Heiterkeit: das Bedürfnis nach der Illusionslosen Kargheit einer Beckett´schen Bühnensituation mit einer Glühbirne, drei Stühle in einem leeren Raum am Rande des bodenlosen Absurden. In einem solchen Raum läßt es sich gut denken und gut Musik erfinden. Wenn hier eine Melodie entsteht, ist sie ohne Puderzucker; wenn es hier Rhythmus gibt, dann ist es kein schwülstiger Walzertraum. Wenn man hier komponiert füllt man keine Plastiktüte mit bizarren Überraschungen.

Die Kompositionen für das Pata Orchester auf der CD „die wilden Pferde der armen Leute“ (1990) lehnten sich an alte Musik an, ohne die zeitgenössische und den Jazz dabei ganz zu vergessen. Das Bläserquartett „Pata Horns“ spielt auf der CD „Talking People“ (1992) eine oft ordentlich gesetzte, warme, beschwingte Blasmusik mit freien Soli und geräuschhaften Intermezzi. Und die Musik des „Pata Orchesters“ auf der CD „The Secret Act of Painting“ – Auftragskompositionen für Ausstellungen bei Bayer – steht in einem überraschenden Kontext zu bildender Kunst. Zur Zeit schreibt Norbert Stein an einer Auftragskomposition für die Musikerinitiative ARFI (Assoziation à la recherche d´un folklore imginaire) in Lyon und deren Orchester „La Marmite infernale“. Die Musik wird auf dem Festival „Le grand barouf“ in Lyon und danach noch einmal auf dem Banlieue-Festival in Paris aufgeführt. Die Musiker kennt er noch nicht; damit ist eine neue Kompositionssituation entstanden. Die Pata-Musik bleibt im Fluß.

Hans-Jürgen Linke