Interview von Michael Scheiner
anläßlich der Veröffentlichung von „Pata Java“ Pata 16
erschienen in JAZZZEITUNG
Doktor Faustroll ist Norbert Stein nie begegnet. Dennoch schätzt der Kölner Reedbläser und Komponist dessen Prinzip der Pataphysik außerordentlich. So sehr, dass Stein seine künstlerischen und merkantilen Unternehmungen seit 16 Jahren danach benennt: Vom Pata Trio bis zum Pata Orchester, vom Pata-Label bis zur http://www.Patamusic.de. 1898 hat der französische Provokateur Alfred Jarry dem ersten Pataphysiker dichterisches Leben eingehaucht. Seither geistert die Pataphysik durch Dadaismus, Surrealismus, umherschweifende Situationisten haben ihre Macht anerkannt. Kürzlich ist Pata Nr. 16, „Pata Java“ mit den Pata Masters und dem indonesischen Ensemble Kua Etnika erschienen. Wie „die große Kehre, die Überwindung der Metaphysik“, nach Gilles Deleuze der Gegenstand der Pataphysik, einst das beschauliche Leben des Rheinländers infiziert hat und welche Rolle sie heute spielt, verrät Stein im Interview.
JZ: Welche Rolle spielt die Pataphysik in deinem Leben, im Alltag, in der Musik?
Stein: Das ist ungeheuer umfangreich. (Pause) Als junger Mensch las ich „Roi Ubu“ (Alfred Jarry) und war fasziniert von der geistigen Welt, die sich auftat. Es folgten Beckett, Ionescu, Artaud, Absurdes Theater, Heideggers Dahingeworfensein, Existentialismus. Das klang nach dem Kern der Dinge und hat mich sehr gefangen genommen. Und dann Ubu, das war burlesk. Dieser feige Machtmensch, die Gewalt, es war die Ironie über das menschliche Theater. Mit dieser Soße komme ich ins Leben, versuche etwas zu begreifen, und höre im Radio Jazz. Diese Musik war existentiell, hat mich begeistert, ein ,Feuer‘ in mir entfacht. Seither ermöglicht mir die Kunst ein tätiges Resultat abstrakter Philosophie.
JZ: Die meisten Gleichaltrigen haben zu der Zeit vor allem Beatmusik und Rock gehört.
Stein: Natürlich habe ich die Hitparade gekannt, aber es hat mich nicht berührt. Mein Vater hat schon Saxofon gespielt, Tanzmusik und im Verein. Das waren auch meine Anfänge — Karneval, Weihnachtskonzerte. Ich kannte alle Schlager zu der Zeit. Jazz war da etwas völlig Neues, verwies auf etwas hinter der bekannten Welt. Ich hörte „Escalator over the hill“, Gato Barbieri, mit dieser kulturellen Konvergenz zu Europa. Bebop war mir zu schnell. Mit der Pataphysik war ich offen zu fassen, was ich tue, sie ermöglichte eine Sammlung der verschiedensten Perspektiven.
JZ: Hat sich daran etwas verändert, seit deine Musik unter dem Label Pata firmiert?
Stein: Die Grundkonstanten sind gleich geblieben. Das Leben hat natürlich einen Verlauf und durch die dabei gemachten Erfahrungen gewinnt man einen anderen Überblick, wird eigenständiger, durchlebt einen Individualisierungsprozess. Ohne Frage gab und gibt es Veränderungen. „Die wilden Pferde“ (1990, Pata Orchester), das war so eine Periode der romantischen Abteilung, eine Bestandsaufnahme der hiesigen kulturellen Bilder und Sehnsüchte. Eine junge Position, würde ich mal sagen. Heute gibt es eine ängstliche Suche nach Grenzen, von der Gesellschaft kommt keine Aufforderung mehr. Kunst aber muß immer weiter gucken.
JZ: Verglichen mit den Aufnahmen Anfang der 90er Jahre hat sich der Fokus deiner Musik bis zum aktuellen Projekt mit den indonesischen Musikern deutlich von der Melodie in Richtung Rhythmus verschoben.
Stein: Die Kraft und Komplexität, die drei bis vier Rhythmusmusiker schaffen können, ist ungeheuer spannend. Ich möchte auch einmal Musik für ein großes Ensemble schreiben, wo ich nur mit grafischen Symbolen arbeite, der Aleatorik Raum schaffe. Braxton hat einmal gesagt, daß er Optionen schaffen wolle, egal wer die Stimme spielt. Sozusagen eine ,Toleranz der 1000 Möglichkeiten‘. Bei Xennakis hat es auch etwas Ubuhaftes, wie er in seiner Musik mit Gewalten umgeht: Einerseits die Schönheit, die entsteht, wenn man bestimmten Regeln folgt. Andererseits die Wahrheit der Regellosigkeit, die einem höheren Prinzip folgt.
JZ: Über Jahre hinweg tauchen bei Projekten und CD-Aufnahmen immer wieder die gleichen Musiker auf. Welche Rolle spielt Kontinuität für dich?
Stein: Es ist schön mit Leuten zu arbeiten, mit denen man schon Arbeitserfahrungen hat und deren Möglichkeiten man kennt. Andererseits bin ich auch unabhängig davon, neue Musiker bringen neue Farben und Ideen. Persönlich schätze ich es, mit Kollegen in einer gemeinsamen Entwicklung zu stehen und zu arbeiten. Kollektive Aufbrüche zu etwas Ungewissem, etwas Neuem, sind etwas sehr Spannendes.
Michael Scheiner (www.michaelscheiner.de) / Jazzzeitung