Begegnung in improvisierter Musik und kompositorisches Bewusstsein
Kommunikation
Jeder Mensch kann akustische Schwingungen erzeugen, die ihm emotional oder geistig etwas bedeuten. Dieses akustische Ereignis bringt also etwas Inneres zum Ausdruck: von Innen nach Außen.
Die kontinuierliche gründliche Beschäftigung mit der Natur der akustischen Ereignisse, den Traditionen und Möglichkeiten ihrer Organisation, der Erforschung von Möglichkeiten, die dem Klingenden zugrundeliegenden Schwingungen traditionell oder darüber hinausgehend zu erzeugen, sich das Können anzueignen, ein Instrument zur Erzeugung eines gewünschten klingenden Ergebnisses einsetzen zu können, die Fähigkeit, als förderlicher Teil in schöpferischen Aktionsgemeinschaften mitwirken zu können: alles das macht eine Musikerin, einen Musiker aus.
Das Ziel und die faszinierende Fähigkeit von Musik ist Kommunikation.
Dafür muss Musik dem Menschen wahrnehmbar sein, d.h. hörbare Gestalt annehmen.
Erlebtes, Erarbeitetes, Erdachtes, Erhofftes, Erinnertes, Erfühltes, Erträumtes … sind Quellen aus denen künstlerische Inhalte geschöpft werden können.
Eine der Formen, in der Kommunikation von Inhalten erlebbar gemacht werden kann, ist der schöpferische Fluss freier und offener kollektiver Improvisation – als eine Kunst des Augenblicks.
Frei und offen ist ein solcher Schöpfungsprozess, wenn nichts Mögliches ausgeschlossen wird.
Begegnung in improvisierter Musik findet nicht nur zwischen Musiker*innen/Komponist*innen und Publikum statt, sondern auch als schöpferischer, spannender Vorgang INNERHALB der musizierenden Gruppe (Ensemble).
Jede künstlerische Begegnung von improvisierenden Musiker*innen ist ein Zusammentreffen vielschichtiger musikalischer Welten; eine Konstellation von Menschen mit jeweils eigener musikalischer Sozialisation, voller individueller Kenntnis von Musik und deren vielgesichtigen ästhetischen Erscheinungsformen, den spezifischen Regeln von dessen Entstehens, mit kompositorischem Bewusstsein und der Bereitschaft für Unbekanntes, Neues, Intensives.
Es ist ein Zusammentreffen von musikalischen Welten mit der Möglichkeit des sich Öffnens zu einem, durch die Zusammensetzung einer solchen Personengruppe einzigartigen, unerschöpflichen Fundus neuer kollektiver Möglichkeiten.
Im Fluss der Improvisation gibt es viele schöpferische Verhaltensweisen hinsichtlich entstehender musikalischer Situationen:
- konventionelle Reaktionen
- unkonventionelle Reaktionen
- Offensein für alle Möglichkeiten, auch für das „das eigene Bekannte Übersteigende“.
- Die Freiheit, im kollektiven kommunikativen Schaffungsprozess uneingeschränkt aus der Fülle der eigenen Welt(en) und der gesamten zur Verfügung stehenden Palette handwerklicher und künstlerischer Möglichkeiten mit kompositorischem Bewusstsein schöpfen zu können.
Kompositorisches Bewusstsein
Kompositorisches Bewusstsein beinhaltet unter anderem auch das Wissen um die Möglichkeit, im interaktiven Fluss kollektiver Improvisation musikalische Strukturen etablieren zu können, die – als musikalische Basis – den Mitmusikern und Mitmusikerinnen Situationen eröffnen für die Entfaltung der Kunst des sich darauf beziehenden Spiels:
- Die Etablierung eines rhythmischen Flusses (Groove) um die Entfaltung der „Kunst des auf ein Metrum bezogenen Spiels“ zu ermöglichen (Inside, Outside etc.).
- Die Etablierung eines harmonischen Feldes (Modalität, Akkordfolgen etc.) um die Entfaltung der „Kunst des auf eine harmonische Situation bezogenen Spiels“ zu ermöglichen (Inside, Outside etc.).
- Die Etablierung einer Melodie um die Entfaltung der „Kunst der Bezugnahme auf eine Melodie“ zu ermöglichen (Kontrapunkt, Polyphonie etc.).
- Die Etablierung kultureller Referenzen (traditionelle Formen, Stile, Zitate etc.) um die dramaturgische „Kunst der Stellungnahme“ zu ermöglichen (affirmatives Einsteigen, Gegenposition, geistige Polyphonie etc.)
Der Verlauf einer offenen kollektiven Improvisation ist ein lebendiges Spiel mit musikalischen Veränderungen im fließenden Augenblick des Geschehens: Entstehen – Dasein – Vergehen – Fluss – Form.
Freie Improvisation ist ein sich Einlassen auf die Möglichkeiten der Gegenwart, eine schöpferische Kontaktaufnahme und Kommunikation, ein künstlerisches Manifestieren dessen, was in der Luft, im Bewusstsein, Unterbewusstsein und Überbewusstsein der Beteiligten, im Reich der Möglichkeiten und des Unerschaffenen liegt.
Hier ist Raum für die Persönlichkeit, das Können und das künstlerische Anliegen des mit kompositorischem Bewusstsein handelnden Improvisators und der mit kompositorischem Bewusstsein handelnden Improvisatorin: ein kreatives, gestaltschaffendes Spiel mit Traditionen, Grenzen, Grenzüberschreitungen und Unbekanntem.
Theorie & Praxis / Aus dem Vollen schöpfen © Norbert Stein Pata Musik